Intakt Records in London – Vortex Jazz Club, 16.-21. April, 2017



: : So 16.4. : :

In Dalston in Londons Norden liegen die beiden besten Jazzclubs der Stadt für all jene, die nicht auf Mainstream stehen. Das Café Oto liegt in einer kleinen Seitenstrasse direkt hinter der Kreuzung der Dalston Lane und der Kingsland High Street, die über knapp fünf Kilometer – sie heisst der Reihe nach Shoreditch High St, Bishopsgate, Gracechurch St und zuletzt dann King William St – in fast gerader Linie zur London Bridge runter führt. Wie ein Teil der Musiker kam ich im unpersönlichen Premier Inn an der Dalston Lane, nahe der erwähnten Kreuzung unter. Etwas weiter östlich an der Dalston Lane liegt das Avo Hotel, das wohl familiärer gewesen wäre, aber als ich über die kleinen Zimmer las und mit Berücksichtigung der ebenfalls etwas höheren Preise … am Sonntagnachmittag zog ich nach etwas abenteuerlicher Anreise mit dem Bus (der Overground-Zug vom Zentrum nach Dalston fuhr über Ostern nicht – die Station Dalston Junction Station liegt praktisch gegenüber des Premier Inn direkt an der Kreuzung) erstmal ein wenig durch das Viertel, das mitten im Umschwung ist, den die Olympiade dem Londoner Norden, Hackney (wozu Dalston gehört) gebracht hat: viele neue Gebäude, auch der Overground-Anschluss wurde erst im Rahmen von Olympia (wieder) erstellt. Daneben aber auch die übliche Mischung aus Ramschläden (Handy-Zubehör, Nägel, Haare, 1£-Shops), einem Markt und vielen türkischen Restaurants. An einer Razzia mit abgesperrter Strasse und sechs oder sieben Polizeifahrzeugen kam ich auch vorbei – und einen Tag später gab es die News, dass in einem Nachtlokal in Dalston auch noch ein Säureangriff stattfand, der wie es scheint eine junge Frau ein Auge gekostet hat. Das Vortex liegt auf der anderen Seite der Kingsland High am Gillett Square, der fest in der Hand einiger junger Skater ist, auf dem sich aber auch Randständige aufhalten. Es gibt ein öffentliches und offenes Urinal auf dem Platz, viel Müll, ein paar Buden, nebenan einen Parkplatz, rundherum vermutlich Sozialwohnungen … und am Ende des Platzes das Dalston Culture House, in dem sich das Vortex nach dem Herzug aus Stoke Newington im Herbst 2004 eingerichtet hat.

Am letzten Abend hatte ich die Gelegenheit, etwas mit Oliver Weindling zu reden, dem Mann, der schon seit einigen Jahren das Vortex leitet. Er meinte, die derzeit sich vollziehende Aufwertung von Dalston führe zu einer Art Aufspaltung in zwei Welten, denn die vielen Menschen, die in Sozialwohnungen leben, sind nach wie vor dort, haben aber keinen Zugang zu der sich herausbildenden „besseren“ Welt u.a. mit teuren Restaurants. Von diesen sah ich allerdings keines, da müsste man wohl von der erwähnten zentralen Kreuzung etwas weiter weg … mag sein, dass die zahlreichen Nachtclubs, die am Freitag überall geöffnet waren, teuer sind, das hindert die Partygänger_innen aber keinesfalls dabei, überall hinzupinkeln und auf die Strasse zu kotzen – aber sowas nennt man wohl aus der gemütlichen Warte derjenigen, die die Gentrifizierung mitantreiben und zugleich bejammern, „lebendig“ und „spannend“ – ist es ja auch, aber wenn ein höchstens siebzehnjähriges Mädchen in Business-Kleidung um zwei Uhr morgens ganz alleine dahergetorkelt kommt, den drei Meter breiten Gehsteig fast gänzlich ausnutzend, ist das eben auch verdammt traurig. Der Gillett Square, ist als in den Neunzigern geplanter neuer Platz mit dem Fremdkörper Vortex, das wohl kaum einer aus der unmittelbaren Umgebung besucht, ein Beispiel für diese durchaus fragwürdige Entwicklung.

Intakt Records in London – Night 1

Los ging es am ersten Abend schon um 19 Uhr. Vier mal Barry Guy stand auf dem Programm, nachdem der ursprüngliche Plan einer Reunion des London Jazz Composers Orchestra aus finanziellen Gründen nicht umsetzbar war. Den Auftakt machte das Duo Maya Homburger–Barry Guy (****1/2) und legten gleich mal die Messlatte sehr, sehr hoch. Ein dichtes, konzentriertes Set spielten die beiden, es gab Biber (die Verkündigung und später die Kreuzigung aus den Mysteriensonaten, an denen ich derzeit sowieso einen Narren gefressen habe), aber auch Stücke von Barry Guy vom gemeinsamen ECM-Album „Ceremony“. Für ein dort zu hörendes Stück für Violine Solo stiess dann auch Lucas Niggli am Schlagzeug dazu und improvisierte völlig frei, während Guy zunächst aussetzte und sich erst gegen Ende auch dazugesellte – dabei war mir nicht klar, ob das eine angehängte Improvisation war oder ob Guy einfach seine Stimme zum Stück dazu improvisierte (wohl letzteres, denn Homburger scheint nicht im Sinne einer Jazzmusikerin zu improvisieren, wenn ich mich nicht irre). Eine Suite für Violine und Bass (ich glaube auch auf „Ceremony“ zu hören) wurde dann durch Niggli ergänzt. Dann gab es auch noch ein Guy/Niggli-Duo, weil Homburger ihre Barockvioline für die zehnte Sonate Bibers (eben die Kreuzigung) umstimmen musste. Riesiger Applaus am Schluss, und schon da war klar, dass in diesem Club eine tolle Stimmung herrscht, erst recht, wenn er so vollgepackt ist wie an diesem Abend.

Weiter ging es dann mit dem Howard Riley Trio (****) mit Howard Riley (p), Barry Guy (b), Lucas Niggli (d). Riley wirkte sehr gebrechlich, kam gebückt und am Stock auf die Bühne – ich erfuhr später, dass er an Parkinson leidet. Vermutlich das erste und auch letzte Mal, dass ich ihn live hören konnte. Ein Jammer, denn als er erst einmal am Klavier sass, spielte er zwar mit einer durscheinenden Zartheit und wenig Attacke, aber das kurze Set war wiederum grosse Klasse. Lucas Niggli erwies sich jedenfalls als würdiger Nachfolger in den grosse Fussstapfen, die er zu füllen hatte (Jon Hiseman, Alan Jackson, Tony Oxley), und die verschiedenen NoBusiness-Releases von Riley (alle solo) sind mir im Wissen um die Endlichkeit seines (Musiker-)Lebens gerade noch lieber geworden. Es gab im Set des Trios ziemlich viele freie Grooves und auch ein erstes Mal Monk, aber in einer einzigartigen, verschütteten Weise, von der sich Alexander von Schlippenbach wohl etwas abschauen könnte (natürlich muss er das nicht tun, er hat seinen eigenen Umgang mit Monk, der ist völlig in Ordnung, aber halt einfach sehr viel salopper und weniger spannend). Jedenfalls eine halbe Stunde, die mir in Erinnerung bleiben wird.

Es gab danach eine kurze Pause, der Club war längst zur Sauna geworden, lauwarmes Ale half da auch nicht weiter. Doch danach folgte das erste ganz grosse Highlight des Festivals: Evan Parker–Barry Guy (*****) – Evan Parker (ts), Barry Guy (b). Das Duo spielte ein grossartiges Set, Parker beschränkte sich auf das Tenor und sein wundervoller Ton kam im transparenten Line-Up noch toller zur Geltung als sonst. Das Set war erneut kurz, aber voller Energie, wirklich umwerfend.

Den Abschluss folgte dann mit Jürg Wickihalder Trio Beyond (****). Jürg Wickihalder (as, ss), Barry Guy (b), Lucas Niggli (d) – Wickihalder war vor ein paar Jahren mit dem New Orchestra sehr kurzfristig eingesprungen, als Trevor Watts ausfiel (die komischen Stories über Egos und zu kleine Schrift des Namens scheinen Blödsinn zu sein, aber ich habe nicht nachgebohrt; zu unwichtig). Wickihalder erzählte mir später, dass es Niggli war, der ihn damals bei Guy empfohlen hätte, und dass er in dem Rahmen zum ersten Mal überhaupt Altsax gespielt hätte, sich rasch ein Leihinstrument besorgen musste – was man aber wirklich nicht merkte, er beeindruckte mich schwer, irgendwo habe ich darüber auch ein paar Zeilen geschrieben (auf Organissimo wohl). Also: an sich ist Wickihalder ein Lacy-Mann, ein Sopransaxer mit tollem, rundem Ton (warum sind die beiden einzigen echten Lacy-Schüler – Wickihalder und Christoph Gallio – ausgerechnet aus der Schweiz? Ist das die Liebe zum Kleinen, zur kleinen Form? Robert Walser und seine Prosastückli?). Los ging es denn am Sopran, später griff Wickihalder zum Alt, spielte dann auch beide Instrumente simultan, um wieder auf dem Sopran zu schliessen. Auch dieses vierte Set war toll, eine sehr runde Sache mit viel Melodien aber auch ordentlichen Attacken. Manchmal kam mir das ein wenig wie ein westmitteleuropäischer Garbarek vor, also mit anderen melodischen Ausprägungen, einer etwas anderen Rhythmik, aber einem ähnlichen Atem (und ohne Eicher’sches Sedativum, will sagen Niggli pflegt eine breite Palette an Klängen und langt auch gerne ordentlich zu). Wobei eben die weiten Bögen – da spielt dann Lacy rein – immer wieder zerbrochen wurden durch zerklüftete, rasche Passagen, die durchaus auch zum Bebop zurückreichen (was bei Lacy ja auch der Fall ist). Es gab auch hier – wie beim Trio mit Riley – wieder diese faszinierende Verbindung aus Grooves und Freiheit.
Im Anschluss landete ich mit Guy und Homburger (die aber am anderen Ende des Tisches sassen), Niggli, Wicklihalder und meinem lieben Freund Florian Keller, der seit etwas über einem Jahr bei Intakt arbeitet, bei einem Türken etwas weiter die Kingsland High hoch. Schon zwischen den Konzerten hatte ich ein paar Male Nachrichten konsultiert, und der Chef des Ladens meinte später auch zu den Jungs am Tisch hinter uns: „My name is Erdogan!“ und grinste sein impertinentes Grinsen. Übel. 

: : Mo 17.4. : :

Für den nächsten Tag – der Overground fuhr noch immer nicht, aber die dreiviertelstündige Fahrt im Bus von oder nach Dalston wiederholte ich auch später noch einige Male über verschiedene Routen, das war viel spannender als zehn Minuten in den Zug zu sitzen – hatte ich eine Karte für die St Paul’s Cathedral. Es ging also mit Bus 242 die Kingsland High runter, in gerader Linie auf das Geschäftszentrum in City zu und dann via Bank direkt hinter die Kathedrale mit ihrer eindrücklichen Kuppel, die man dann auch besteigen kann. Die Sicht auf die Stadt war klar, obwohl der Himmel bedeckt war (der einzige Regen war gestern beim Einsteigen ins Flugzeug, 50 Meter im Nieselregen – sieben Tage London ohne einen Tropfen!). Danach gab ich mir die volle Sonntagsdröhnung und spazierte über die Millenium Bridge und danach der Themse entlang runter bis zur Westminster Bridge, was an einem solchen arbeitsfreien Tag neben Horden von Touristen auch tausende Londoner zu tun scheinen. Über die Westminster Bridge ging es danach am Parlament und der Westminster Abbey vorbei weiter zur Westminster Cathedral, in die ich kurz hineinging, als gerade eine Messe zu Ende ging, danach ging es weiter zum Buckingham Palace und – an Sonntagen ist da autofrei – durch den Green Park und weiter an Harrods vorbei (die meisten grossen Läden haben auch an Sonntagen und erst recht an solchen Bank Holidays geöffnet) zum Victoria & Albert Museum, in dem ich ein paar Stunden verbrachte, fasziniert von der unendlichen Vielfalt an Kunsthandwerk aller Arten: Möbel, Kleider, Skulptur, Objekte aller Art, bis hin zur Schmiedekunst – vieles natürlich aus den ehemaligen Kolonien zusammengeraubt und auch teils nach geographischen Kriterien präsentiert. Alles anzusehen würde wohl eine Woche beanspruchen, in Wechselausstellungen (zu denen der Eintritt bis zu 20£ kostet) bin ich grundsätzlich nicht, da ich alle besuchten Museen noch überhaupt nicht kannte (nur die Tate Modern, die ich dann leider aus Zeitgründen wegliess, kannte ich bereits von meinem letzten Besuch in London vor ca. 15 Jahren). Der Eintritt in die Sammlungen ist aber bei den staatlichen Museen generell kostenlos, d.h. da schlendern viele Leute auch einfach etwas umher, setzen sich in die teils sehr tollen Höfe und Cafés (der überdachte Innenhof von Jean Nouvel im British Museum ist wirklich toll), die Museen sind daher oft gut gefüllt, aber als wirklich stressig empfand ich es nur ab und zu bei den Highlights, die in den erhältlichen Broschüren und Plänen erwähnt werden (ganz zu recht, denn wie soll man sich sonst in solchen Parallelwelten, die man noch gar nicht kennt, überhaupt orientieren … und für diese Pläne wird man dann auch zu einer kleinen Spende aufgefordert bzw. muss sie kaufen).

Intakt Records in London – Night 2

Am Abend ging es wieder ins Vortex – und Schlangestehen war auch nicht mehr nötig, denn wie sich herausstellte, gab es stets Zettelchen mit den Namen auf den kleinen runden Tischen und man wurde beim Eingang angewiesen, wo man plaziert war. Den Auftakt des zweiten Abends machte nach Howard Riley der andere Veteran des englischen Jazz, den ich noch nie live gesehen hatte, Trevor Watts, im Duo mit einem altbekannten Trommler aus Zürich: Trevor Watts–Dieter Ulrich (****). Watts spielte Alt- und Sopransax, Ulrich wie üblich ein recht kleines Kit ohne viel Zierrat (anders als z.B. Niggli, der in der Tradition von Pierre Favre steht und jeweils ein eigenwilliges Kit aufbaut, das u.a. mit einer Art Christbaum von sich verkleinernden Becken ausgestattet ist und mit allerlei Dingen – Kabelrohren aus Gummi, Becken auf der Snare, Glocken – traktiert bzw. ergänzt wird). Ulrich erzählte später, wie seine Wiederbegegnung mit Watts nach sehr vielen Jahren verlief und wie seine Bedenken rasch verflogen waren, als die beiden am Nachmittag zusammen im Pub sassen. Das Set gelang wirklich, es war einmal mehr relativ kurz (die meisten Sets dauerten wohl so um die 40 Minuten), völlig frei improvisiert und zugleich dicht aber auch entspannt. Ulrich spielte oft recht karg und manchmal sehr leise, Watts sponn daneben lange Linien auf seinen Saxophonen. In einer kurzen Zugabe griff Ulrich dann auch noch zu seiner Signaltrompete (ein seltsames Ding mit nur einem Ventil – ich hätte ihn danach fragen sollen, wo ich schon die Gelegenheit hatte). Am nächsten Abend hörte ich draussen in der Pause, wie zwei Engländer sich über das Set unterhielten. Der eine war am Konzert, der andere erkundigte sich danach, und ersterer meinte sinngemäss, Ulrich (den er offensichtlich gar nicht kannte, der Laden war wohl wegen Watts auch am zweiten Abend brechend voll) habe manchmal etwas servil gespielt. Doch das ist nicht der Punkt, denn gerade in der oft gar zu atemlosen freien Improvisation (in der die Engländer ja ganz weit vorn mit dabei sind, man denke an Bailey, Parker, Watts, Oxley, Guy, Riley, Stevens, Rutherford etc.) ist es doch von Vorteil, wenn man auch mit Texturen, mit Verdichtung und Entspannung, mit Stille und Pausen umgehen kann, nicht jeden Augenblick auf der Zeitachse mit einem Geräusch oder einen Aktion füllen muss. Am Abend darauf landete ich mit Noisy Minority und Percy Pursglove bei einem anderen – dem angeblich besten der ganzen Gegend, aber das war ziemlich identisch mit dem impertinenten Erdogan – Türken und meinte in einem langen Gespräch, in dem Ulrich bereitwillig erzählte von seinen prägenden Erlebnissen, Begegnungen mit Lee Konitz und Don Friedman, von Vorbildern, Miles Davis-Platten usw., dass ich ihn im besten Sinn für einen „old school“-Drummer halte – und er schien das in der Tat, was natürlich meiner Absicht entsprach, als Kompliment aufzunehmen.

Das zweite Set des zweiten Abends, war der „ringer“, eine World-Music-Band, wie sie im Vortex wohl zuvor noch gar nie auf dem Programm stand. Von Seiten der Intakt-Leute war durchaus eine gewisse Nervosität zu spüren: wie würden das Publikum reagieren? Doch die Bedenken waren völlig überflüssig, denn das Trio Aly Keïta–Jan Galega Brönnimann–Lucas Niggli (*****) legte ein fulminantes Set hin und gerade Aly Keïta sprühte vor Charme – völlig entwaffnend. Die Lautstärke und die fortgeschrittene Stunde (halb 11, hallo?) führten aber wohl dazu, dass doch einige Leute den Club verliessen, was sich leider über die kommenden Nächte hinzog. Um Mitternacht ist wohl mit der Underground und auf vielen Buslinien Schluss, und wenn man auf die andere Seite der Stadt muss, dauert das auch gerne eine Stunde oder länger. Aber zur Musik: Aly Keïta (balafon), Jan Galega Brönnimann (bcl, contra bcl, ss, perc), Lucas Niggli (d) – Keïta spielt ein von seiner Familie hergestelltes spezielles Balafon, eigentlich ein doppeltes mit zwei um einen Halbton verschobenen diatonischen „Klaviaturen“, die chromatische Läufe und das Spiel von Akkorden erlauben (Aly spielte manchmal mit zwei, manchmal mit drei oder vier Schlägeln). Zudem sind die Klangstäbe bei den Keïta-Instrumenten (hergestellt von seiner Familie in Mali) nicht fest auf die Kalebassen montiert sondern schwingen über ihnen – quasi eine Luxus-Variante des Balafons. Natürlich ist das Ergebnis – zwei um einen Halbton versetzte diatonische Skalen – nicht wohltemperiert, das heisst es gibt immer wieder Reibungen, kleinen Unreinheiten, die den Sound umso spannender machen. Niggli fing an diesem zweiten Abend Feuer und trommelte wie ein Besessener, während Brönnimann, der in der Mitte stand und ein paar Fusspedale vor sich hatte, manchmal im Klanggebräu etwas unterging bzw. eher gefühlt als gehört werden konnte. An der Bassklarinette und manchmal der Kontrabassklarinette spielte er oft repetitive Basslicks, spielte mit leichter Verzerrung und Oktavierung verquere, verschrobene Riffs, brach aber auch immer wieder zu ekstatischen Solo-Flügen auf. Am Ende des wohl längsten aller Sets der sechs Abende, die ich dabei war, griff er auch noch zum Sopransaxophon. Wahnsinnig toll! Das Set dauerte wohl etwa eine Stunde und war damit das längste der sechs Abende – doch es hätte die ganze Nacht weitergehen können!

Eine Fussnote: sowohl dieses Trio mit Keïta (der in München lebt), Brönnimann und Niggli wie auch jenes mit Wickihalder, Guy und Niggli hörte ich tatsächlich in London zum ersten Mal – ich schäme mich dafür, denn beide Trios hätte ich schon öfter in Zürich oder in der näheren Umgebung hören können. Den Ausklang des Abends gab es danach in der Lobby des Hotels den vier Schweizern des Abends (Watts kam nicht mehr zurück, er wollte nur rasch sein Saxophon in sein Zimmer bringen, das er in einem Hotel ein paar Schritte die Strasse herunter hat), dabei erfuhr ich auch die Details über Alys Instrument, teils von ihm selbst, teils von Niggli. Irgendwann nach zwei Uhr verzog ich mich dann aber, denn für den nächsten Tag hatte ich ein Ticket für die Westminster Abbey und wollte bei der Öffnung um zehn dort sein.

: : Di 18.4. : :

Am nächsten Tag traf ich beim Frühstück nochmal kurz Aly Keïta. Danach ging es in die Westminster Abbey, wo ich natürlich viel zu lange brav in der Schlange stand, weil nicht angeschrieben war, dass man mit Ticket gleich rein konnte und ich keine Begleitung hatte, die schon mal vorsondieren bzw. den Platz in der Schlange halten konnte … Eindrückliche Sache, völlig überladen und unglaublich voll mit Grabstätten, Gedenkplatten usw. Da fliesst galertartig ein Pulk von Tausenden von Touristen durch, man wird schon mal angerempelt und der Lärmpegel ist der eines Hauptbahnhofes zur Rush Hour – doch immerhin wird zu jeder vollen Stunde – über Lautsprecher angekündigt – ein einminütiges Gebet durchgeführt, bei dem an still zu sein und sich nicht zu bewegen hat. Nach all den Schreinen, dem tollen Chorbereich mitten in der Kirche und dem Poet’s Corner, wo sie wirklich alle versammelt sind (für jene, die nicht dort liegen, gibt es einmal mehr Gedenksteine), von Shakespeare über die Brontës bis zu Ted Hughes, geht es raus in den einstigen Klostergarten (das Chorgestühl war einst auch den Mönchen vorbehalten). Und erst von dort kommt man ins achteckige Chapter House, wohl das tollste, was es in der Westminster Abbey zu sehen gibt, aber das weiss zum Glück keiner von den Touristen, denn da steht man plötzlich ganz alleine und ist doch nur zwanzig oder dreissig Schritte vom Pulk entfernt – irr. Vom Hof kann man dann noch eine Reihe von Gärten besichtigen, inklusive des grossen College Garden – und auch dort hat man natürlich seine Ruhe. (Der Spass kostet aber – wie auch die St Paul’s Cathedral – um die 20£, wenn man die Karten erst vor Ort kauft, noch etwas mehr.)

Von da aus spazierte ich weiter zur Tate Britain, deren Sammlung in erster Linie der britischen Malerei gewidmet ist. Die Sonderausstellung mit Werken von Hockney liess ich einmal mehr weg, aber der Rundgang, der vom mittleren sechzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart ging, war leidlich interessant (manches natürlich hervorragend, aber mit Ausnahmen stehe ich nicht besonders auf die britische Malerei … die William Turner gewidmeten Räume musste ich aber natürlich sehen, der Hauptgrund für den Besuch. Auch gab es im entsprechenden Seitenflügel des erneut sehr grossen Museums je einen den Pre-Raphelites und William Blake gewidmeten Raum. Und Zürich ist selbstverständlich auch vertreten, denn eine grossangelegte Schau der britischen Malerei kommt natürlich nicht aus ohne Henry Fuseli (aka Johann Heinrich Füssli). Die Räume mit Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts sind überdies definitiv auch einen Besuch wert, obgleich man in der Tate Modern davon natürlich sehr viel mehr zu sehen kriegt. Sehr gut gefiel mir auch die kleine Photoausstellung Stan Firm inna Inglan: Black Diaspora in London 1960-70s mit Bildern von acht Photographen, die das Leben von Zuwandern aus der Karibik und aus Westafrika dokumentieren. Auch die Ausstellung über Queer British Art besuchte ich leider nicht (ich machte so schon fast schlapp), aber mir fiel in allen Museen auf, dass sie jeweils einige Werke in der Sammlung liessen, die zu den aktuellen Wechselausstellungen „gehören“, und zur Queer-Ausstellung gibt es sogar einen Broschüre, auf der man während des Rundgangs in verschiedenen Räumen ein paar Werke gezielt anpeilen kann.
Im Anschluss ging es wieder zum Westminster, ich kriegte dann auch mit weshalb schon den ganzen Vormittag ein Helikopter über dem Viertel kreiste, denn Teresa May hatte gerade ihre Neuwahl angekündigt, mit der sie wohl eine ähnliche Machtfülle zu acquirieren hofft, wie der kleine Mann mit den vielen Schafen am Bosporus es gerade geschafft hat (zumindest behauptet er das, die Spaltung des Landes ist ja ein kleiner Preis). Ich betrat dann noch die sehenswerte St Margaret’s Cathedral direkt neben der Westminster Abbey, zog an der Gedenkstelle für den Anschlag vorbei weiter zum Trafalgar Square und warf einen Blick in St Martin in the Fields, ass irgendwo in Soho üble Fish & Chips, bevor ich in ein paar Buchläden am Charing Cross ging (u.a. natürlich Foyles), aber im grossen Stil einkaufen ging nicht, da ich ja nur mit Handgepäck unterwegs war – Fliegen ist auch so noch viel zu mühsam.

Intakt Records in London – Night 3

Am Abend standen dann Irène Schweizer–Louis Moholo-Moholo (***) auf dem Programm, zunächst im Duo und im zweiten Set mit Omri Ziegele Where’s Africa (***1/2), zu dritt mit Omri Ziegele am Altsaxophon. Der Abend, auf den ich mich wegen Moholo sehr freute, entpuppte sich leider als der schwächste der sechs – wobei ich das mit etwas mehr kritischer Distanz wohl hätte ahnen können. Schweizer und Moholo sind beide schon sehr lange unterwegs, sie kennen sich auch schon lange, haben aber über die Jahre wohl nicht allzu regelmässig zusammen gespielt und sind beide auf je eigene Art relativ schwierig, dünkt mich. Sprich: Schweizer macht ihr Ding. Moholo macht sein Ding. Schweizer ist nach wie vor eine tolle Solopianistin, daran hege ich keinerlei Zweifel, aber im Zusammenspiel klappt es nicht immer gleichermassen gut. Ihre Duo-CD, live vom Jazzfestival Zürich 1986 gehört zu den Aufnahmen, die ich während des Schreibens wiederhöre und sie ist klasse, keine Frage! Aber eben: Schweizer ist längst eine Art Solitär, eine Solistin geworden, mich überzeugte neulich auch das Duo mit Joey Baron nicht wirklich (ich bin auf die für später im Jahr geplante CD gespannt, kann ja gut sein, dass das Konzert auf CD besser funktioniert – wären die Intakt-Leute und Schweizer nicht überzeugt, würden sie das wohl kaum herausbringen). Schweizer tendierte jedenfalls im Duo-Set für meinen Geschmack etwas zu oft dazu, in kantige, an Monk orientierte Grooves zu fallen. Moholo machte daneben – halbwegs autistisch – sein Ding, trommelte wie üblich um den Beat herum und erzeugte dabei einen irrsinnigen Groove, wie es eben nur Moholo kann. Dabei starrte er aber etwas missgelaunt ins Leere und wenn Schweizer ihn aufforderte, das nächste Stück – es wurde frei improvisiert – zu starten, gab er nur zurück, sie solle anfangen. Einmal gab es dann tatsächlich auch noch den kindischen „du – nein du – nein du“-Dialog. Aber gut, in der Mitte hob das Set für eine Viertelstunde oder so tatsächlich ab, aber einen guten Schlusspunkt fanden die beiden dann wiederum nicht.

Omri Ziegele war wahrlich nicht zu beneiden, denn die Spannungen zwischen Schweizer und Moholo waren buchstäblich zu greifen. In diesem Gravitationsfeld hätte Ziegele leicht sein Gesicht verlieren können – das war denn auch seine Angst nach dem schon spannungsgeladenen Soundcheck, wie er mir am nächsten Tag beim Frühstück erzählte. Seine Strategie: hinstehen, spielen, sein Ding durchziehen. Und das tat er souverän und mit grosser Überzeugung und einigem Feuer. Gespielt wurden die alten südafrikanischen Tunes von den Blue Notes, der Brotherhood of Breath etc. Und dass Schweizer diesen lockeren und saftigen Groove im Griff hat, wurde auch einmal mehr klar. Moholo machte daneben aber weiterhin sein Ding, ohne sich gross auf die Tunes und die Grooves einzulassen, was durchaus schade war. Als das Publikum – es applaudierte stark, schien sich an den Spannungen nicht gross zu stören – eine Zugabe einforderte, warf Moholo den anderen ein schroffes „let’s play something … together“ an den Kopf, bevor es ein letztes Mal losging.

: : Mi 19.4. : :

Am nächsten Morgen traf ich Omri Ziegele beim Frühstück und unterhielt mich mit ihm über den Vorabend, über seine langjährige Zusammenarbeit mit Schweizer usw. Ich darf an diese Stelle wohl erwähnen, dass ich einige Zeit brauchte, um mich mit ihm, mit seiner Musik anzufreunden, aber seine Performance am Vorabend nötigt mir wirklich grössten Respekt ab.

Ich machte mich dann nach dem gemütlichen und langen Frühstück (am Vorabend mochte niemand mehr zum Essen mitkommen, also bediente ich mich – ebenso wie Omri – ausgiebig beim englischen Frühstücksbuffet mit seinen ganzen kulinarischen Hässlichkeiten) später als geplant auf den Weg in die Stadt. Zuerst ging es in die British Library, in der eine kleine aber sehr feine Schau mit Handschriften und besonders wertvollen Büchern zu sehen ist, Manuskripte von Tallis oder Bach werden ausgestellt, die Magna Charta, Beatles-Memorabilia, da Vinci, eine ganze Reihe religiöser Werke aus der halben Welt … obendrein gibt es aktuell eine Ecke, die der Handschriftensammlung Stefan Zweigs gewidmet ist, dabei nicht nur eine Partitur einer Oper von Richard Strauss sondern auch Manuskripte von Mozart „Veilchen“ (das Lied spielt eine Hauptrolle in Jessica Hausners Kleist-Film) und Schuberts „An die Musik“ – Zweig betrachtete diese beiden Lieder als eng miteinander verbunden und als Krönung des Liedschaffens überhaupt.
Ein Spaziergang durch Saint Pancras – auch ein im Eiltempo gentrifiziert werdendes Viertel – führte mich dann zum British Museum, das noch um ein Vielfaches irrer ist als das V&A. Mehr als zwei Stunden schaffte ich nicht und habe dabei nur einen kleinen Bruchteil gesehen, stand natürlich vor dem Parthenon-Fries und ging durch den „Enlightenment“-Room, für den alleine man einen ganzen Tag einplanen könnte. Um dieses Museum zu erfassen, müsste man wohl ein Jahr in London verbringen und sich jeden Nachmittag einen einzigen Raum vornehmen können (es gibt „nur“ 95, aber teils sind sie so gross wie eine oder auch drei Schwimmhallen). Ich musste da wieder raus, bevor mein Kopf explodierte. Unterirdisch ging es nach Camden Town, ins kleine Jewish Museum, wo ich durch die Dauerausstellung schlenderte und mir die kleine, von ihrem Bruder kommentierte Amy Winehouse-Ausstellung anschaute. Danach ging es noch einmal nach Soho, wo ich bei Soul Jazz Records den grössten Einkauf dieses Urlaubs tätigte (5 CDs vom hauseigenen Label). Danach mit Bus 38 (schon zum zweiten Mal) zurück nach Dalston, „Back to Black“ in den Ohren.

Intakt Records in London – Night 4

Den Auftakt des vierten Abends im Vortex machte einmal mehr Irène Schweizer in einem Duo: Irène Schweizer–Maggie Nicols (****1/2). Wie oft bei Vokalistinnen wie Nicols war ich zunächst etwas skeptisch, doch ich war schnell überzeugt von ihrer völlig authentischen Art. Und Schweizer war obendrein das pure Gegenteil vom Vorabend: sie liess sich auf Nicols ein, ein echter Dialog entstand, der immer wieder in ungeahnte Richtungen ausscherte und auch Raum für Humor liess. Das ganze fühlte sich über weite Strecken ziemlich intim an und war wirklich gut.

Das zweite Set speilte Omri Ziegele Noisy Minority (****1/2), die langjährige Working Band bestehend aus Omri Ziegele (as, voc), Jan Schlegel (elb), Dieter Ulrich (d), zu denen als Gast der Trompete Percy Pursglove stiess. Ich kam erst später, als ich mit den vieren beim erwähnten „besten“ Türken sass drauf, dass ich Pursglove ja schon kannte: er spielt in der Blue Shroud Band von Barry Guy, die ich bei ihren beiden Konzerten in Zürich hörte und beide Male schwer beeindruckt war – auch vom phantastischen Solo, das Pursglove in diesem Programm hat. Mit Noisy Minority betätigt sich Ziegele stets auch als Wortkünstler (bzw. nervt, je nach Standpunkt, mit peinlichen hingerotzten – oft frei improvisierten – Texten). Das stand früher meinem Genuss von Ziegeles Musik einigermassen im Weg, aber ich habe mich damit schon seit einiger Zeit ausgesöhnt und fand das auch an diesem Abend recht passend. Jan Schlegel am E-Bass und Dieter Ulrich am Schlagzeug spielten sich rasch in eine „Zone“, aus der sie bis zum Schluss nicht mehr herauskamen, da flogen die Ideen und Grooves nur so hin und her, während Ziegele und Pursglove die überaus ansprechenden Themen präsentierten, die irgendwo zwischen Bebop, Monk, Funk und vor allem der Ornette-Tradition changierten. Hektische Linien mit überraschenden Wendungen, die aber völlig überzeugend daherkamen und zur Strukturierung eines sehr tollen Sets dienten – das dann aber beim Publikum überraschenderweise nicht ganz so richtig rüberkam, obwohl es wirklich toll war. Das mag daran gelegen haben, dass weite Teile des Publikums wohl wegen der Engländer in den Club kamen: Barry Guy und Howard Riley am Sonntag, Trevor Watts am Montag, Moholo (der ja lange in London gelebt hat) am Dienstag und Maggie Nicols am Mittwoch.

Mit Ulrich sprach ich auch – zwei Tage vorher glaube ich, er hatte mit Pursglove und Schlegel dazwischen einen Gig in Birmingham – auch über das Konzert, das ich letztes Jahr mit Oliver Lake, William Parker und ihm gehört habe, und dass es mich nicht völlig überzeugt hätte bzw. im Verlauf besser geworden sei. Er meinte, so sei die ganze Tour verlaufen, also immer besser geworden – und die angekündigte CD auf Intakt sei vom Ende der Tour und werde ziemlich toll – bin gespannt!

: : Do 20.4. : :

Am nächsten Morgen liess ich es nach dem monströsen Vortag etwas geruhsamer angehen. Um 11:30 hatte ich mich auf einen Kaffee in 30 St Mary Axe (aka The Gherkin) mit einem Kollegen verabredet, und genoss von fast zuoberst erneut einen tollen Blick auf die Stadt, diesmal mit einigen willkommenen Erläuterungen. Auf dem Weg dahin spazierte ich noch über die Tower Bridge und durch den Teil der Southwark, in der The Shard steht, ging auch kurz in die ziemlich eindrückliche Southwark Cathedral rein. Danach ging es weiter ins Imperial War Museum am nördlichen Ende von Lambeth. Am ausführlichsten schaute ich mir den Teil über den Ersten Weltkrieg an, mit dem die Schau einsetzt (ich hatte mich nicht informiert und war etwas enttäuscht, dass es zur eigentlichen „imperial“ Epoche der britischen Geschichte gar nichts gab bzw. diese nur am Rande – eben in der ausführlichen Dokumentation über den Ersten Weltkrieg – hineinspielt). Aber fraglos auch dies ein tolles Museum. Danach ging es rüber zum Piccadilly Circus, durch Teile von Soho, Mayfair und Marylebone (und unterwegs auch kurz in den hmv an der Oxford Street).

Intakt Records in London – Night 5

Beim fünften Abend war ich mir über meine Erwartungen nicht im Klaren, da war irgendwie alles möglich. Den Auftakt machte Schlippenbach Plays Monk (****1/2), so zumal die Ankündigung. Doch Alexander von Schlippenbach beschränkte sich nicht auf Monk, fing etwas mäandernd an, suchend, zog dann einen Zettel aus der Gesässtasche, wohl mit ein paar Notizen zur möglichen Setlist. Nach einer Viertelstunde war das Konzert in Gang und es geriet ganz phantastisch. Schlippenbach verdichtete die Musik immer mehr, fiel dann in nahezu sangliche Linien (und er sang bzw. summte und brummte überhaupt permanent mit), fiel in verschiedene Monk-Themen, die er quasi an- und ausknipsen, ein Fragment vom einen Stück an einen Auszug aus dem nächsten hängen kann. Das war sehr gut gemacht, aber als Monk-Interpreten finde ich Schlippenbach dennoch nur halbwegs überzeugend. Eine Spur zu glatt gerät mir das oft, die Ecken und Kanten fehlen, rhythmisch scheint mir ebenfalls manches etwas zu wenig klar konturiert, auch wenn die Stücke harmonisch gesehen spannend bleiben und durch das freie Verfügen über das Material keine Langeweile aufkommt – den Schlippenbach verabschiedet sich mitten in der Phrase wieder von Monk und zieht weiter. Was mir dabei öfter durch Kopf ging war, dass sein lineares Spiel oft recht nah bei Lennie Tristano ist, bei dessen völlig gleichmässiger Phrasierung, dessen Weise, den Melodien nachzusteigen bzw. sie laufend neu zu erfinden (die Quelle von Lee Konitz und Warne Marsh) … und irgendwie führt ja bei Cecil Taylor eine halbverschüttete Linie weiter, die Brubeck aber eben auch Tristano enthält. Und in diese Linie, so kam es mir vor, reihte Schlippenbach sich an diesem Abend ein. Jedenfalls war das Pendel der Ungewissheit da schon ganz klar in die gute Richtung gekippt.

So ging es dann auch weiter, mit dritten Auftritt Ziegeles im Trio Omri Ziegele–John Edwards–Mark Sanders (*****). Das war nach Guy/Parker und Keïta/Brönnimann/Niggli für mich das nächste ganz grosse Highlight. Ein intensives Set von wohl 45 Minuten ohne Pause mit Omri Ziegele (as, wood fl, voc), John Edwards (b) und Mark Sanders (d). Ziegele hatte schon ein paar Tage davor erzählt, dass er Edwards und Sanders in Sibiu gehört habe, als sie nach den offiziellen Festivalkonzerten in einer Bar im Duo spielten und ihn dabei enorm beeindruckten. Damals setzte sich die Idee fest, dass er mit den beiden spielen wollte und in London war dies nun möglich. Das Set war eine Wucht! Im Gegensatz zum Konzert in Mulhouse, bei dem ich Edwards/Sanders hinter – buchstäblich, wie man hier auch an den Photos sehen kann! – Roscoe Mitchell hörte. Im kleinen Vortex und ohne einen bewunderten Helden vor der Nase gelang das Zusammenspiel noch deutlich lebendiger und Sanders Getrommel war schlichtweg „insane“, wie ich ihm nachher auch sagte.
Der Abend klang danach in der tristen Hotel-Lobby aus … auf dem Weg zurück begegneten wir Alexander von Schlippenbach, der auch noch etwas draussen unterwegs war und sich später zu auch noch zu uns gesellte, um ein Bier zu trinken.

: : Fr 21.4. : :

Der letzte Tag kam viel zu schnell – London ist nun gewiss keine Stadt, durch die ich besonders gerne stundenlang zu Fuss herumziehen möchte (und letzteres ist an sich das Kriterium für Städte, die ganz oben in die Liste kommen – von den grossen schafft das wohl nur Paris), aber es gibt doch unglaublich viel zu sehen und man bewegt sich mit der U-Bahn und den Bussen doch einigermassen effizient von einer Ecke in die nächste, das langsame explorieren beschränkt sich dann halt eher auf solche kleineren Ecken. Aber für Freitagmorgen stand für einmal kein Gang an sondern es ging direkt ins Museum – geplant war die National Gallery und dann später wollte ich noch hinüber zur Tate Modern – doch die National Gallery schlug mich völlig in den Bann, die Sammlung ist der reine Wahnsinn (ich verzichtete auch hier einigermassen schweren Herzens auf die Michelangelo/Sebastiano-Ausstellung) – das fängt an mit Piero della Francesca, Uccello, Jan Van Eyck (das Arnolfini-Portrait, und wenn man nur zwei Minuten Geduld hat, steht man auch davor ganz alleine), Leonardo, Rafael, Veronese, Bellini, Tizian, Holbein, Vermeer, Velázquez, Caravaggio, Van Dyck, Rubens, Rembrandt, Hals, Turner, bis hin zu Monet, Cézanne, Van Gogh, Sisley, Pissarro etc. Daneben gab es in einem etwas abgelegenen Raum, in dem man ebenfalls ganz allein sein konnte, ein Meisterwerk von Guido Cagnacci – mehr dazu hier. Das Buch, das die Frick Collection und die National Gallery gemeinsam über den mir davor völlig unbekannten Cagnacci publizierten, kaufte ich dann auch noch.
Nach über vier Stunden war ich halbwegs durch mit der Sammlung, zu manchen Bildern ging ich noch ein zweites mal. Danach war nicht mehr viel zu machen, für die Tate reichte die Zeit nicht und die Aufnahmefähigkeit war eh völlig erschöpft. Also ein letzter kurzer Gang durch Covent Garden und danach ein letztes Mal und wieder mit einer neuen Route mit dem Bus 243 zurück nach Dalston.

Intakt Records in London – Night 6

Mein letzter Abend im Vortex begann mit einer Band, auf die ich eigentlich keine Lust hatte – ohne sie zu kennen. So übel wie befürchtet war das dann allerdings nicht, aber wirklich begeistern konnten mich doch nur einzelne Momente. Kinsella–Marshall–Edwards–Buechi: Wood & Bones (***) nannte sich das Quartett, doch es handelte sich eindeutig um Sarah Buechis Projekt. Die zweite Sängerin Lauren Kinsella hatte einen Notenständer mit viel Papier vor sich, während Buechi das Material kannte. Ihre Performance schien mir eine Spur zu selbst=bewusst, eine Spur mehr Rampensau als nötig, während die feinere Simme von Lauren Kinsella daneben zweite Geige spielte und auch etwas leise im Mix war. Wenn die beiden zusammen sangen und dann auch noch vom Cello von Hannah Marshall und John Edwards‘ Bass begleitet wurden, ergaben sich allerdings immer wieder bezaubernde Passagen. Leider waren die Texte oftmals auf Poesiealbum-Niveau … und für Edwards, diese Naturgewalt am Bass, war der Rahmen etwas einengend.

Den krönenden Abschluss machte danach aber das Schlippenbach Trio (*****) und zwar in seiner Originalbesetzung mit Evan Parker (ts), Alexander von Schlippenbach (p) und Paul Lovens (d). Das Set war unglaublich dicht und dennoch nie atemlos. Das Trio agierte aufmerksam und improvisierte mit höchster Intensität. Irgendwann steuerte Schlippenbach wieder Monk-Tunes an, Fetzen aus „Skippy“ fügten sich ein, Evan Parker liess sich aber nur für ein paar Sekunden darauf ein, später erklang „Evidence“, das Parker dann – wie schon beim Konzert in Zürich mit Paul Lytton am Schlagzeug, ebenfalls mitanstimmte … und auch eine Zugabe hielt das Energielevel oben. Fantastisch, das Trio noch einmal mit Paul Lovens sehen zu können, dessen Spiel das Trio massgeblich antreibt und für eine ganz andere Energie sorgt, als wenn Paul Lytton am Schlagzeug sitzt (die Gruppe ist auch dann phantastisch, aber eine andere).

Danach ging es noch einmal zu Erdogen, es schloss ich auch Lionel Friedli an, der Drummer, der am folgenden Abend in einem zweiten Projekt mit Sarah Buechi zu hören sein würde. Nach vier kurzen Stunden im Bett ging es dann bereits wieder in Richtung Flughafen, wo es auf den fünfzig Metern vom Gebäude zur Treppe doch noch etwas Nieselregen gab – aber das vermochte den Eindruck natürlich nicht zu trüben. Ein grossartiges Festival, das die Intakt- und die Vortex-Crew auf die Beine gestellt haben. Gerne wäre ich noch sechs weitere Abende dabei gewesen und hätte auch noch Ingrid Laubrock, Pierre Favre, Sylvie Courvoisier und Mark Feldman und ein weiteres Mal Evan Parker gehört.

Nächstes Wochenende folgt in Zürich ein zweitägiges Follow-Up, das London-Zürich Festival im Theater Neumarkt, zu dem ich wohl am zweiten Abend gehen werde, dann spielen Laubrocks Sleepthief (die gestern im Vortex auftrten) und davor zum Auftakt erneut das Duo Evan Parker/Barry Guy. Am Vorabend bin ich verhindert, da würde mich vor allem das Zusammentreffen von Parker mit dem hiesigen Gitarristen Flo Stoffner (den ich auch schon mit Paul Lovens hörte), daneben gäbe es erneut Schweizer/Moholo und Ziegele/Edwards/Sanders – wundernehmen würde es mich ja schon, ob ersteres besser klappt und letzteres erneut solche Höhen erklimmt … aber gut, man kann nicht alles und am 1. Mai höre ich die Sopranistin Julia Lezhneva im Konzert, vom 4. bis am 6. Mai will ich ans Taktlos und zwei Wochen später ist auch noch das Konzert von Nils Wogram Root 70 (mit Hayden Chisholm) eingeplant (für das ich extra eine Karte für Herbert Blomstedt mit Beethoven 7 und 8 in der Tonhalle vom Freitag auf den Mittwoch eingetauscht habe, am Donnerstag dazwischen gibt es noch eine Oper von Haydn) – Langeweile kommt gewiss nicht auf.

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