Taktlos.16: Ephrem Lüchinger, Poing + Maja S. K. Ratkje, Ken Vandermark & Nate Wooley - Rote Fabrik, Zürich, 20. Mai 2016

Taktlos.16 (33. Ausgabe)
Aktionshalle, Rote Fabrik, Zürich

"Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche."

Ephrem Lüchinger - "Are You Prepared" | Wie sich die Musik von Lüchingers tollem Tripel-Album "Are You Prepared" auf die Bühne übertragen liess, war mir ein grosses Rätsel - und ihm selbst anfänglich auch, wie er in einer sympathischen längeren Ansage, der ersten, nach wohl zwei Dritteln des Sets, meinte: er hätte zwar zunächst mal zwei Tage im Studio am Flügel aufgenommen (2008 war das), das Material aber Jahre später für die Veröffentlichung massiv bearbeitet. Als man ihn angefragt hätte, ob er das auch live aufführe, habe er schon beim Gedanken daran beinah in die Hose gemacht. Um die Musik auf die Bühne zu bringen musste er quasi den umgekehrten Weg nehmen. Dazu dienten zwei Flügel, zwischen denen Lüchinger sass und hin- und herwechselte, der eine von ihnen massiv präpariert (er wurde auch mal mit Schlägeln im Innern bespielt), ein Akai-Synthesizer auf dem unpräparierten anderen Flügel und hinter dem Klavierhocker ein Laptop. Das Set entwickelte einen tollen Flow, Lüchinger bewegte sich behende zwischen den Instrumenten und stapelte Klänge übereinander (das Live-Sampling war wohl der Beitrag von Florian Liechti, der im Hintergrund tätig war, vermute ich mal) und entwickelte immer neue Ideen, griff aber auch bereits gehörte Motive wieder auf, was durchaus für eine Kohärenz in der ansonsten fliessenden Entwicklung führte. Nach der erwähnten Ansage gab es dann eher kürzere Stücke, Segmente aus der Tripel-CD, die wirklich lohnt. Ein Portrait, das vor etwas über einem Jahr aus Anlass der Veröffentlichung des Albums in der NZZ erschien, machte mich erstmals auf die Musik von Lüchinger neugierig.

Poing + Maja S. K. Ratkje - "Kapital & Moral" | Das Trio Poing und die überragende Vokalistin Maja Solveig Kjelstrup Ratkje führen am Vorabend zum 1. Mai in Oslo traditionellerweise ein Programm mit Arbeiterliedern, Songs von Brecht/Weill, Eisler etc. auf. Die Rote Fabrik führt "rot" nicht nur wegen der Farbe des Backsteinbaus im Namen, vermute ich ... man lud das norwegische Quartett ein, sein Programm am Taktlos aufzuführen. Frode Haltli am Akkordeon war quasi Herz und Motor der Combo, während Rolf-Erik Nystrom am Alt (und gelegentlich Sopranino, auch ein paar Male simultan) und Hakon Thelin für Solistisches und ein tolles Fundament ("we try to be as taktlos as we can") sorgten und Ratkje in der Mitte stand und ihre beeindruckenden Sangeskünste darbot. Was für eine Stimme, was für ein Präsenz! Ich hatte sie noch nie live gehört, kenne auch nur wenige Aufnahmen, aber sie ist eine der ganz wenigen, die mir mit keinerlei Vokalakrobatik auf die Nerven gehen - sie darf alles, denn alles wirkt völlig echt, nichts aufgesetzt, alles völlig geerdet. Ratjke griff zum Megaphon, hielt ihr Mikro an ein altes Transistorradio (an dem sie mehr oder weniger ziellos rumzuschrauben schien, irgendwann hörte man schweizerdeutsche Stimmen rauskommen), spielte auch ein paar Male Violine. Los ging es mit einer tollen Version von John Lennons "Working Class Hero", es folgten Stücke aus der "Dreigroschenoper" ("Die Ballade vom angenehmen Leben", "Seeräuberjenny"), Hanns Eislers "Solidaritätslied", gesungen auf Deutsch (das wird wohl je nach Gegend, wo die Formation spielt, angepasst, man soll ja durchaus was verstehen), später auch eine berührende Version von David Bowies "Rock'n'Roll Suicide", dazwischen auch Lieder von Rudolf Nielsen, einer Schlüsselfigur der norwegischen Sozialdemokratie. Was mir bei der Performance übrigens auch sehr positiv auffiel war, wie entspannt und zugleich professionell alle vier zugange waren - im Gegensatz dazu wirkten die Tiptons nun erst recht wie eine Gymnasiastengruppe, denen die Eltern pausenlos zuflüstern, wie besonders und toll sie doch seien ... harsche Worte, ich weiss, aber das beschreibt haargenau meine Eindrücke. Der einzige Wehmutstropfen: weil mal wie die übliche Verspätung herrschte und Poing/Ratkje sogar auf die Uhr guckten und in etwa pünktlich aufhörten, fiel ihr Set etwas kurz aus (eine gute Dreiviertelstunde wohl - ich hätte problemlos nochmal eine Stunde gelauscht).

Ken Vandermark & Nate Wooley - "All Directions Home" | Den Abschluss des Abends machte dann das Duo von Ken Vandermark und Nate Wooley - und soviel vorweg: sie spielten ein klasse Set! An sich konnten sie nach dem bisherigen Programm nur noch verlieren, sie waren zudem der einzige eigentliche Jazz-Act des Abends und das Publikum wohl vor allem wegen Lüchinger deutlich zahlreicher in die Fabrik geströmt als am Abend davor (allerdings nach Lüchingers Set auch schon allmählich ausgedünnt, dünkte mich). Die Blaupause für dieses Duo, in dem Vandermark erfreulicherweise etwa die Hälfte der Zeit Klarinette spielte, ist das Duo von John Carter mit Bobby Bradford, so erklang schon zum Auftakt ein Stück von Carter, später ein weiteres (bei dem VDMK dann aber Tenorsaxophon spielte). Es gab dissonante Momente, komplexe Linien, ohne Rhythmusgruppe gewiss keine ganz einfache Sache für das Publikum, aber die beiden spielten entspannt auf. Wooley kam bis auf eine Passage in einem Stück auch ohne Zirkuläratmung aus, seine Ansagen waren relativ locker. Aber er war als Solist für meinen Geschmack etwas zu eklektizistisch - irgendwie nicht völlig unpassend, dass er auf die perverse Idee kam, eine Hommage an den Komponisten Wynton M. einzuspielen ... und nicht unpassend, aber das dann wohl die grösste Schwäche, falls es denn eine geben muss (eine andere war das stellenweise etwas mäandernde Trompetenspiel, aber die meiste Zeit waren beide sehr fokussiert). Vandermark hat tatsächlich die Aura eines Gebrauchtwagenhändlers, aber ihn kannte ich ja schon. Was mir - nach Rolf-Erik Nystrom mit Poing - bei seinem Spiel nochmal sehr stark auffiel war, wie solide das alles war, auf wie sicherem Fundament und wie locker er auf allen drei Instrumenten auf ein grosses Vokabular zurückgreifen konnte und dennoch stets mit eigenem Charakter spielte - auch da drängte sich der Vergleich mit dem Tiefpunkt des Vorabends wieder auf: sich im Probekeller einschliessen und ein paar Monate üben, zunächst allein, danach in der Gruppe, wäre auch noch ein Rat, aber den mag man einer Combo mit zwanzigjähriger Geschichte ja nicht ernsthaft geben). Den Abschluss machte eine berückend schöne Version eines Stückes von Ornette Coleman (ich glaube "I Heard It on the Radio", ein Outtake von der ersten Session zu "This Is Our Music", das erst in der Box "Beauty Is a Rare Thing" erschien - das würde passen, denn in der Ansage wurde erwähnt, dass es sich um ein unveröffentlichtes Stück handle).

Den Schlussabend heute werde ich weglassen, was aber nicht primär an der Konkurrenzveranstaltung liegt, zu der ich gehen werde (dazu später vielleicht ein paar Zeilen - es gäbe als zweites auch noch Sheila Jordan zu hören ... wie man diese Überbuchung an einem einzigen Wochenende hinkriegt, ist mir ein Rätsel, sowas kann man doch etwas besser koordinieren, erst recht wenn danach bis zur Sommerpause auch nur noch wenige interessante Jazzkonzerte stattfinden). Aber gut, das Wiener Programm (Maja Osojnik "All. The. Terms. We. Are"; Blueblut "Hurts so gut"; Madame Baheux), das im Zusammenhang mit einem grösseren Jelinek-Projekt des Schauspielhauses über die Bühne geht, spricht mich nicht sehr an und zwei Festivalabende am Stück sind, zumal wenn man mitten im Alltagstrott steht, auch genug. Aber soweit ein sehr schönes Festival dieses Jahr, bei dem wie schon am Unerhört der eher mit gemischten Gefühlen (klar, ich wusste, dass ich Maja Ratkje verfallen würde, aber sonst ...) Abend zum durchschlagenden Erfolg wurde, während der erwartungsfroh angegangene Eröffnungsabend am Ende nicht ganz so toll war wie erhofft.

Meine Notizen zum ersten Abend

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